Angela Schuh, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin aus Bonn

Vielleicht möchten Sie sich die therapeutische Arbeit besser vorstellen können. Dazu skizziere ich Ihnen einige Behandlungsverläufe. Um die Beispiele nicht zu überfrachten, habe ich die Entstehung der seelischen Probleme nicht beleuchtet, und auch nicht die Zusammenarbeit mit den Eltern.

Sven, 4 Jahre

Sven bringt seine Eltern immer wieder zur Verzweiflung. Er macht dauernd etwas kaputt, ärgert seine kleine Schwester und hat mehrmals am Tag einen Wutanfall. Abends kann er nicht einschlafen und verlangt ständig nach seiner Mutter.

Warum verhält sich Sven so? Er ist in einem schlimmen Kreislauf gefangen: Weil er nicht ausreichend an die Liebe seiner Eltern zu ihm glaubt, erlebt er jedes Nein als Ablehnung seiner ganzen Person und gerät außer sich vor Wut und Verzweiflung. Er rächt sich durch sein zerstörerisches Verhalten und hat am Ende große Angst, dass die Eltern ihn nun überhaupt nicht mehr lieben. Deshalb sucht er dauernd die Nähe und Bestätigung seiner Mutter. Aber diese kann ihm aufgrund ihrer eigenen Überforderung nicht mehr die unbedingte Liebe geben, die er sich ersehnt.

Zu Beginn der Therapie gibt Sven alles, um mir zu beweisen, dass er ein ganz toller Junge ist. Offenbar glaubt er, nur so meine Anerkennung und Zuneigung erlangen zu können. Da sein Anspruch an sich selbst viel zu hoch ist, gelingt ihm alles bei weitem nicht so, wie er es vorgibt: Der Turm aus Klötzen wird nicht hoch genug, die Schale aus Ton bricht zusammen. Gegen Ende der Stunde wird er immer destruktiver, weil ihn die Angst beherrscht, dass ich ihn nicht mag und ihn auch nicht in guter Erinnerung behalten kann. Aus Selbstschutz macht er mich jetzt ganz klein. Denn wenn er mich abwertet und beschimpft, muss er nicht traurig sein, wenn ich mich von ihm von ihm abwende. Sein schlechtes Verhalten ist also zu diesem Zeitpunkt die bestmögliche Bewältigung seiner Angst.

In den folgenden Stunden erlebt Sven jedoch, dass sich seine Befürchtungen nicht bewahrheiten. Trotz seiner zerstörerischen Wut bin ich weiterhin für ihn da. Er muss mich als unzerstörbare Person erleben, die ihm Grenzen setzt und den eigenen Ärger so verarbeiten kann, dass sie sich nicht rächen muss. Das stärkt sein Vertrauen in unsere Beziehung und lässt seine Destruktivität etwas zurückgehen.

In unseren Spielen muss Sven allerdings noch lange die Führungsrolle übernehmen, damit er sich in der Beziehung zu mir sicher fühlen kann. Er ist der Chef, ich sein Untergebener. Er kann alles bestimmen, ich nichts. Dabei projiziert er Gefühle von Ohnmacht und Minderwertigkeit, die er so schlecht ertragen kann, auf mich. Indem ich ihm meine Gefühle von Ohnmacht in milder Form zeige, fühlt er sich verstanden und kann zugleich erleben, dass solche Gefühle erträglich sein können. Auf diese Weise mindert sich seine Angst vor Entwertung, und sein Vertrauen in mein Wohlwollen wird stärker. Während ich anfangs alles falsch mache, gewinne ich allmählich seine Anerkennung. Damit gibt er zurück, was er von mir als Anerkennung erlebt und verinnerlicht hat. Am Ende werde ich im Spiel sein Partner und darf mitbestimmen, wie wir Projekte gestalten. Und immer häufiger werden Episoden, wo er sich ein Bilderbuch holt, sich an mich kuschelt und sich vorlesen lässt.

Sven erlebt sich am Ende der Therapie überwiegend als liebenswerter Junge. Das ermöglicht es ihm, sich an Erwachsene anzulehnen und sich auf konstruktive Weise Anerkennung zu verschaffen. Der Weg dahin dauerte mehr als zwei Jahre und war nur möglich, weil die Eltern intensiv mit mir zusammen arbeiteten.

Hanna, 8 Jahre

Hanna steht aus der Sicht der Lehrerin ständig unter Stress. Die Mutter erlebt ihre Tochter ebenfalls sehr gereizt und unausgeglichen. Für Hanna zählt nämlich nur noch eines: Einser schreiben. Auf schlechtere Noten reagiert Hanna traurig bis verzweifelt. Jeden Nachmittag haben Mutter und Tochter großen Streit um die Hausaufgaben. Hanna ist furchtbar ungeduldig mit sich, bekommt Wutanfälle, wenn eine Aufgabe nicht gleich gelingt. Außerdem fühlt sich Hanna ganz schnell für etwas schuldig und macht sich Vorwürfe. Ihr zentraler Satz bei unserem ersten Gespräch: „Eigentlich will ich immer eine Eins. Aber es ist ja auch gemein, immer besser zu sein als die anderen. Dann werden die anderen ja neidisch.“

Hanna hat offenbar die Idee, ganz besonders gut sein zu müssen, um ausreichend anerkannt zu werden. Ihre Selbstwertzweifel bringen sie jedoch auch dazu, sich mit den Unterlegenen zu identifizieren, und das führt sie in einen zunächst unlösbaren Widerspruch zu ihrem Ehrgeiz. Außerdem birgt der große Abstand zwischen ihrem Anspruch an sich selbst und ihrem Selbstvertrauen ständig die Gefahr großer Frustrationen und entsprechender Wutanfälle.

Wenn wir miteinander spielen, zeigt sich Hanna eine kurze Zeit lang höflich und nicht zu kämpferisch, doch dann sucht sie sehr schnell die Konkurrenz. Sie spielt angespannt und sehr ehrgeizig. Wenn ich Fehler mache, behandelt sie mich mit hämischer Herablassung. Auf diese Weise macht sie mir deutlich, wie streng und abwertend sie mit eigenen Schwächen umgeht. Ich vermittele ihr allmählich in milder Form, dass ich sie sehr streng erlebe und mich ihre Kommentare durchaus verunsichern können. Zunächst setzen bei ihr massive Schuldgefühle ein, und sie wird sofort wieder freundlich und angepasst. Aber Hanna kann ja immer wieder erleben, dass ich sie nicht verurteile oder mich zurückziehe. Sie kann zunehmend sehen, dass ich bei ihr wie bei mir Schwächen als selbstverständlichen Bestandteil des Spiels akzeptiere. Und sie erlebt im Rahmen eines sich entwickelnden Vertrauensverhältnisses, dass sie keine besondere Leistung präsentieren muss, um von mir gemocht zu werden.

Nach einiger Zeit baut sich Hanna eine Hütte. Sie sucht sich, unabhängig von mir, einen Ort der Geborgenheit. Damit zeigt sie mir, dass sie von meiner ständigen Bestätigung unabhängiger geworden ist. Aber gerade dieser Zugewinn an Unabhängigkeit macht es ihr möglich, ihr Bedürfnis nach liebevoller, mütterlicher Zuwendung zu zeigen. Bei einem Rollenspiel, bei dem sie Häschen ist, springt sie mir immer wieder auf den Schoß und kuschelt sich an mich. Sie versucht, eine Balance zwischen ihrem Wunsch nach Zuwendung und dem nach Unabhängigkeit zu entwickeln.

Am Ende der Therapie ist Hanna sehr viel ungezwungener und freier im Umgang mit ihren Eltern wie mit Gleichaltrigen. Sie ist immer noch eine sehr gute Schülerin und möchte das auch sein, aber ihr Selbstwerterleben ist so stabil, dass sie von einer schlechteren Note nicht mehr aus der Bahn geworfen wird. Die Therapie fand einmal wöchentlich statt und dauerte etwas über ein Jahr.

Paul, 13 Jahre

Paul hat oft Bauchschmerzen. Die Eltern erleben ihn sehr schüchtern. Außerdem fühlt er sich gegenüber seinen jüngeren Geschwistern immer benachteiligt, ärgert diese sehr viel und zieht sich schon bei geringfügigen Angriffen beleidigt zurück. In der Schule wird er gemobbt und hat keine engen Freunde.

Paul hält sich mir gegenüber lange zurück. Schließlich öffnet er sich sehr vorsichtig: Zunächst berichtet er von Hänseleien der Mitschüler. Seine Selbstzweifel und die damit einhergehende Beschämung hindern ihn daran, sich selbst und mir das Ausmaß des Mobbing deutlich vor Augen zu führen. Doch als klar wird, wie missachtend und gehässig einige Mitschüler mit ihm umgehen, sorgen die Eltern mit meiner Unterstützung zunächst dafür, dass die Lehrer gegen das Mobbing einschreiten.

Mit dem Rückgang der tatsächlichen Angriffe und einem Zuwachs an Vertrauen in unseren Kontakt kann sich Paul immer besser mit seinen inneren Konflikten auseinandersetzen. Dabei wird deutlich, dass er sich nicht gut behaupten kann, weil er sich vor der Rache der anderen fürchtet. Aber er fühlt sich selbst auch sehr schlecht, wenn er sich aggressiv verhält, erlebt seine Aggression übermäßig destruktiv.

Paul sucht mit meiner Hilfe Formen von Selbstbehauptung, mit denen er sich wohlfühlen kann. Damit beginnt ein positiver Kreislauf, der ihn immer mehr stärkt: Indem Paul sich besser behaupten kann, staut er weniger Ärger an und entwickelt nicht mehr so große Wut. Er fühlt sich zunehmend freier im Umgang mit seinem Ärger, hat entsprechend weniger Selbstzweifel und kann sich ungezwungener unter Gleichaltrigen bewegen. Entsprechend seinem Zuwachs an Selbstbewusstsein verbessert sich auch sein Verhältnis zu seinen Geschwistern und die Eifersucht geht zurück.

Am Ende der Therapie, die 1 ½ Jahre dauert und einmal wöchentlich stattfindet, meint Paul: „Ich glaube, ich bin jetzt ein richtiger Mobbing-Experte geworden.“

Wie bei den meisten älteren Kindern findet die Therapie bei weitem nicht nur durch Gespräche statt. Paul spielt viel mit mir: Gesellschafts- und Geschicklichkeitsspiele. Dabei kann er seine Selbstbehauptungswünsche und seine Aggression zunehmend mit mir im Spiel ausprobieren. Er kann erleben, dass aggressiv gefärbtes Kämpfen viel Spaß machen kann. Diese Erfahrung trägt entscheidend zu der Entwicklung von mehr Sicherheit und Freiheit im Umgang mit anderen bei.

Isabell, 17 Jahre

Isabell ist magersüchtig. Sie war ein halbes Jahr lang in der Klinik, musste dort zunächst einige Zeit künstlich ernährt werden. Bei ihrer Entlassung hat sie knapp das Normalgewicht erreicht und muss einmal wöchentlich zum Arzt gehen, um sich wiegen zu lassen. In der Klinik hat sie unterschrieben, dass sie sich wieder einweisen lässt, wenn sie zweimal das Normalgewicht unterschritten hat.

Das sind die Rahmenbedingungen, unter denen die Therapie beginnt. Isabell ist sehr zwiespältig gegenüber der Therapie. Einerseits leidet sie sehr unter dem Zwang, sich immer mit der Ernährung beschäftigen zu müssen, andererseits möchte sie unbedingt abnehmen und erlebt mich als mächtige Gegnerin in diesem Wunsch.

In der Magersucht fühlt Isabell die Möglichkeit, sich stark und leistungsfähig zu fühlen. Damit kann sie Selbstwertzweifel und schmerzliche Abhängigkeitsgefühle vermindern. Sie hat noch keinen befriedigenden Weg gefunden, sich zu behaupten. Ihre Angst, die Anerkennung ihrer Eltern und anderer Menschen zu verlieren, ist zu groß. Und sie hat Angst vor der Entwicklung ihren weiblichen Körpers. Die sich entwickelnde erwachsene Sexualität geht mit bedrohlichen Phantasien von Kontrollverlust einher.

In der Therapie ist Isabell zunächst sehr zurückhaltend. Sie fürchtet meine Kritik und Kontrolle, projiziert die eigene Strenge mit sich auf mich. Sie muss lange Zeit erleben, dass ich sie nicht verurteile, sondern mich ausschließlich darum bemühe, sie zu verstehen. Im Rahmen eines sich entwickelnden Vertrauensverhältnisses setzt sich sie sich mit ihren Beziehungsproblemen auseinander: zunächst vor allem mit dem Konflikt zwischen dem mit Ängsten verbundenen Wunsch nach freundschaftlichen Kontakten und dem Drang nach Überlegenheit und Unabhängigkeit. Ihr wird zunehmend klar, wie sehr ihr Wunsch nach Beziehung mit der Idee verbunden ist, sich vollständig anpassen zu müssen um den Preis der Selbstaufgabe. Kann sie sich überhaupt so wertschätzen, dass sie sich behaupten darf? Und wie kann sie sich behaupten, ohne dass sie den Menschen, die sie liebt, verletzt und die Beziehungen gefährdet? Isabell setzt sich mit ihren Selbstwertproblemen auseinander, mit ihrer Angst vor Ablehnung, der Angst, sich schuldig zu machen, wenn sie sich behauptet und negative Gefühle zum Ausdruck bringt. Sie findet zunehmend Möglichkeiten, sich in ihren Beziehungen wohler zu fühlen, kann Nähe und Distanz, Anpassung und Autonomie in ihren Beziehungen zu ihren Eltern, Geschwistern und Freunden befriedigender ausbalancieren.

Aber als Therapeutin bin ich nicht nur eine positive Begleiterin. Verbunden mit einem Zuwachs an Selbstbewusstsein und Vertrauen in die Haltbarkeit unserer therapeutischen Beziehung, greift mich Isabell auch als jemanden an, der sie in ihrer Selbstbestimmung behindert. Sie zeigt mir, wie wütend sie ist, dass sie nicht hungern kann, wie sie will, wenn sie die Therapie bei mir fortsetzen will. Die Konflikte, wie sie ähnlich mit den Eltern sind, greifen in unserer Beziehung Platz. Ich kann Isabell verstehen, muss sie aber auch mit ihrem Mangel an Selbstfürsorge und ihrer Mitverantwortung für die Therapie konfrontieren. Wir setzen uns auseinander. Sie spürt, dass ich sie ernstnehme, aber auch ein starkes Gegenüber bin. Entscheidend für die Entwicklung von Isabell ist, dass sie auch in unserer therapeutischen Beziehung wagen kann, ihre negativen Gefühle und Selbstbehauptungswünsche zu äußern und erfahren kann, dass die Auseinandersetzung, die damit verbunden ist, am Ende zu einer Bereicherung und Vertiefung der Beziehung führt.

Verbunden mit Isabells wachsender Fähigkeit, ihre Beziehungen in der Familie und mit Freundinnen befriedigender zu gestalten und dem damit verbundenen Zuwachs an Selbstwerterleben, geht der Leistungsdruck und der Zwang zu hungern zurück. Isabell kann sich allmählich mit ihrem Körper versöhnen und sexuelle Bedürfnisse erleben, ohne allzu große Angst vor Kontrollverlust.

Isabells Therapie dauert 2 ½ Jahre. Am Ende macht sie sich immer noch häufig Gedanken über eine gesunde Ernährung. Aber sie erlebte diese Gedanken kaum noch als konflikthaft und will auch nicht mehr abnehmen. Ihr Leben ist ausgefüllt durch Freunde und Hobbies. Zu ihren Eltern hat sie überwiegend guten Kontakt, ohne sich zu sehr verantwortlich zu fühlen.